Dienstag, 9. Februar 2010

Wie wird man eigentlich obdachlos?

Schon mal einen stinkenden, ungepflegten, im Müll wühlenden Obdachlosen gesehen? Klar, das hat doch jeder. Aber hast du schon mal darüber nachgedacht, wie man "Penner" wird? Was muss im Leben eines Menschen geschehen, damit er sich selbsttätig zum totalen Randgruppenmitglied degradiert? Dass Obdachlose gesellschaftlich nicht akzeptiert sind, ist ja allgemein bekannt.

Heute z. B. war ich mit meinem Kumpel unterwegs, irgendwo um den Leonrodplatz herum, und neben dem Kiosk an der Kreuzung schlurfte ein Obdachloser entlang, mit riesigem, abgewetztem Bergsteigerrucksack auf dem Rücken, altem Schlapphut und noch älterem Mantel, dazu noch abgetragene Schuhe und ungestutzter Bart. Das Alter war nicht festzustellen, auch aus der Nähe nicht. Mein Kumpel sagte jedenfalls beim Anblick dieses Menschen so etwas wie: "Den seh ich immer, wenn ich hier umsteige", und zog ein leicht angeekeltes Gesicht.

Sonst ist er ja nicht so, aber was DIESE Gesellschaftsschicht angeht, scheint nahezu jeder hauptsächlich negative Assoziationen zu haben. Okay, das ist auch zu verstehen. Es ist wirklich nicht besonders appetitlich, einen ungewaschenen, ungepflegten Menschen in ungewaschenen, ungepflegten Klamotten vor sich zu haben, der wie ein Straßenköter nach weggeworfenen Wurststullen kramt. Ist doch klar, dass man sich angeekelt abwendet. Nur - ist diese Einstellung moralisch richtig? Wäre es nicht viel moralischer, auf das menschliche Wrack zuzugehen, ihn auf einen Kaffee einzuladen und ordentliche Kleidung sowie ein Hotelzimmer für ein, zwei Nächte zu organisieren? Das klingt vielleicht übertrieben, aber hier geht es um die Einstellung.

Jeder kann auf der Straße landen, auch Oberstudienrat Max Mustermann oder Karla Huber vom örtlichen Finanzamt oder Lottomillionär Hubert schmollke. Warum nicht auch DU? Bist du dir sicher, dass du NICHT den Boden unter Füßen verlieren würdest, wenn dein bester Freund stürbe oder deine Freundin dich verließe oder du deinen Job oder deine Ausbildungsstelle verlörst oder deine Freunde dich im Stich ließen oder deine Familie dich verstieße? Woher willst du wissen, dass du nicht in die Drogenszene abrutschen oder die Welt um dich herum vergessen würdest?

Stell dir vor, du hast deine große Liebe geheiratet. Deine Frau und du, ihr erwartet Nachwuchs, die Geburt naht, du fährst sie ins Krankenhaus. Es ist eine schwere Geburt, es steht auf Messers Schneide - und möglicherweise sterben Mutter und Kind. Du bist komplett fertig mit der Welt und - wer weiß - vielleicht schneit auch noch ein paar Wochen oder Monate später die Kündigung ins Haus. Irgendwann kannst du deine Miete nicht mehr bezahlen oder hast nicht mehr die Motivation dazu. Du wirst vor die Tür gesetzt, du weißt eventuell nicht wohin. Aber im Grunde ist dir das alles ohnehin egal, dein Leben hat mittlerweile ja längst jeden Sinn und Zweck verloren. Dann bist du selbst einer, auf den "anständige" Leute mit ihren Fingern zeigen und über den sie sagen: "ich kann ihn ja irgendwie verstehen, aber ICH hätte es in seiner Lage ja GANZ anders gemacht!".

Es kann JEDEN treffen. Absolut jeden. Viele Obdachlose waren davor Professoren, hochrangige Beamte und Ähnliches. Man sollte nicht über den Lebenswandel anderer urteilen, wenn man nicht ihre Geschichte kennt und die Gründe, warum sie jetzt so sind, wie sie sind. Auch wenn du kein Penner bist, sind mit Sicherheit nicht alle deine Mitmenschen von dir angetan. Missverstanden und falsch eingeschätzt zu werden ist scheinbar eine normale Sache.

ALSO: auch Obdachlose sind Menschen wie du und ich. Weil wir alle gleichwertig sind, ganz egal, was wir tun, denken und sagen.

In diesem Sinne,
die Sojabohne.